Gesundheit als Wirtschaftsmotor - der 6. Kondratjew
- utakoetting
- 27. März 2021
- 4 Min. Lesezeit
Ist es vielversprechend oder beängstigend, dass unsere Gesundheit in den Mittelpunkt wirtschaftlichen Geschehens rückt?
In meiner romantischen bis utopischen Vorstellung ist Gesundheit ein kostbares Gut, das jedem Menschen zusteht. Es sollte nichts sein, das wir uns hart erkämpfen müssen oder schlimmstenfalls gar nicht leisten können. Jeder sollte jederzeit die bestmögliche medizinische Betreuung und Behandlung erhalten - so mein Ideal einer Gesellschaft. Und dann stieß ich auf die Kondratjew-Zyklen. Demnach seit Anfang der 2000er Jahre Gesundheit ein zentrales gesellschaftliches Thema wird, das vor allen Dingen aber auch wirtschaftliches Wachstum antreibt.
Hat meine Utopie eine Chance darauf, Realität zu werden?
Kurze historische und wissenschaftliche Faktenlage:

Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts beschäftigte sich der Russe Nikolai Kondratjew (1892 - 1938) mit Zeitreihen wirtschaftlicher Indikatoren, die über 140 Jahre reichten. Aus dieser Beobachtung schloss er, dass die wirtschaftliche Entwicklung von Industriestaaten in vierzig bis
sechzig Jahre dauernden langen Wellen des Auf- und Abschwungs erfolgt. Ausgelöst von disruptiven Erfindungen, genannt "Basis-Innovationen" (z. B. Erfindung der Dampfmaschine, des Automobils oder großflächiger Verbreitung des Eisenbahnnetzes oder der Elektrizität). Diese Wirtschaftszyklen wurden später nach ihm benannt. Mehr zu den Kondratjew-Zyklen findet ihr hier: https://www.kondratieff.net/kondratieffzyklen
Spannend ist nun, dass moderne Vertreter der Kondratjew-Theorie, wie sein Landsmann Leo Nefiodow, die gegenwärtige steigende wirtschaftliche Bedeutung gesundheitsbezogener Produkte als ein Zeichen dafür deuten, dass die Basisinnovation für den nächsten langanhaltenden Aufschwung seit Beginn des 21. Jahrhunderts - den sechsten Kondratjew-Zyklus - im Gesundheitssektor liegt.
Der sechste Kondratjew-Zyklus
Gesundheit hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einem Megamarkt entwickelt und gehört zu den größten Branchen der Welt. Seit 2000 sind laut Nefiodow zwei Drittel der neuen Arbeitsplätze in den USA im Gesundheitssektor entstanden, und das Wachstum geht immer weiter.
Die Menschen sind offensichtlich immer mehr bereit, mehr Geld in ihre Gesundheit zu investieren und auch aktiv etwas dafür zu tun. Was natürlich auch dazu führt, dass wir immer älter werden (allerdings nicht zwangsläufig gesünder...) und dadurch auch immer länger medizinisch versorgt werden müssen.
Während der traditionelle Gesundheitssektor noch sehr technisch, administrativ und umsatz-/kostengetriebene Bereiche umfasste (Medizintechnik, Pharma-Medikamente, Krankendienste, betriebsinterne Gesundheitsdienste etc.), beschäftigt sich der neu aufkommende Gesundheitssektor mit wesentlich ganzheitlicheren und menschenbezogenen Themen.

Diese reichen von alternativer Medizin (Homöopathie, Akkupunktur, Kinesiologie, Ayurveda etc.) über Ernährung, Umweltschutz, Wellness/Fitness, gesundes Wohnen und Bauen, körper- und umweltverträgliche Textilien bis hin zu Eigenmedikation und -behandlung, neuen Gesundheitstechnologien, Gesundheitsseminare /-vorsorge und psychologische bis spirituelle Gesundheit.
Es hat sich also - Gott sei Dank - viel getan im Gesundheitswesen. Auch wenn ich nach wie vor einen weitreichenden Mangel an gesamtheitlichem und menschlich-individuellem Blick auf die Patienten beklage.
Tiziano Terzani spricht in seinem Buch "Noch eine Runde auf dem Karussell" davon, dass der Mensch in der Medizin nur noch "als Anhäufung verschiedenster Einzelteile" betrachtet wird. Quasi als Konsequenz der Industrialisierung und der Einführung des Fließbandes, was beides in einem systematischen Zusammenfügen von Einzelteilen resultierte, um immer größere Warenmengen herzustellen.
Entsprechend ist der Medizin auch heute noch der gesamtheitliche Blick auf den Menschen verwehrt und die Behandlung beschränkt sich auf seine Einzelteile. Interessant wird es nun sein, mit welcher Haltung die Gesellschaft (Bürger, Industrie, Politik), das Thema Gesundheit in Zukunft betreiben werden. Bleibt es bei einer rein profit-getriebenen Ausrichtung? Oder schaffen wir es, Gesundheit als ein kostbares Menschenrecht zu behandeln, das auf jedes Individuum mit derselben Sorgfalt und Aufmerksamkeit angewandt wird?
Wo viel Licht ist, ist auch Schatten: die Wachstumsbarrieren des 6. Kondratjews
Bevor ein neuer Kondratjew-Zyklus sein volles Potential entfalten kann, muss er wohl zunächst die ein oder andere Barriere überwinden. Beim 6. Kondratjew-Zyklus wird diese Barriere u.a. in einer globalen sozialen Unordnung gesehen.
Gemeint sind damit die Folgekosten und Schäden, die weltweit durch Betrug, Diebstahl, Lügen, Sabotage, Drogen, Gewalt, Hacking, Cybererpressung, Krieg, Flüchtlingsströme, Klimawandel, Umweltzerstörung usw. entstehen. All dies entzieht dem Gesundheits-Sektor entsprechend Ressourcen und die Möglichkeit, sich nachhaltig und stabil zu entwickeln.
Psychosoziale Gesundheit als Grundlage für eine soziale Ordnung
Nefiodow sieht in der geistig und seelischen Gesundung der Menschen eine riesen Chance für eine wirkungsvolle Reduzierung der sozialen Unordnung.
"Ein geistig gesunder Mensch nimmt keine Drogen, kann maßhalten, geht verantwortungsvoll mit den natürlichen Ressourcen um. (....) er betrügt nicht, ist nicht käuflich, ist wahrhaftig. (...) er beutet andere Menschen nicht aus, raubt keine fremden Wohnungen aus, hat Gemeinschaftsgefühl. Ein spirituell gesunder Mensch hat eine vertrauensvolle Beziehung zu Gott, tritt für Versöhnung, Gerechtigkeit und Frieden ein und verbreitet weder Hass noch Gewalt."
Die zweite Barriere des sechsten Kondratjews halte ich persönlich für noch kritischer. Und zwar geht es dabei um die vergleichsweise niedrige Produktivität im Gesundheitswesen. Der Begriff "Produktivität" ist im Zusammenhang mit unserer Gesundheit ja schon fürchterlich und stellt eine Entfremdung von Natur und Menschlichkeit dar. Eine niedrige Produktivität ist aber in der momentanen Welt, in der es stets um noch mehr Profit geht, nicht gut gelitten. Also wird die Kostenschraube noch enger gedreht und das Produktionsvolumen gesteigert, wo es noch geht.
Fakt ist aber auch, dass das moderne Leben in vielerlei Hinsicht unseren Körper und unsere Seele belastet. Die Krankheiten, die daraus entstehen, führen zu einer klaren Überlastung des bestehenden Gesundheitswesens. Welches diesem Namen gar nicht gerecht wird, da es hier nicht um Gesundheitsbewahrung und gesamtheitliche Heilung geht, sondern allein um die profitable Behandlung von Symptomen. Was die Ursachen nicht behebt und somit weitere Störungen und Krankheiten nach sich zieht, zu chronischen Erkrankungen führt und in Konsequenz zu ständig steigenden Kosten für Diagnosen, Medikamente, Therapien und vor allen Dingen Verwaltung.
Meine Utopie bleibt also wohl zunächst eine Utopie. Was wäre es für eine wunderbare Welt, in der wir Geld verdienen durch das Wohl am Menschen. Nicht, um unsere ewige Gier nach Materiellem zu befriedigen, sondern als Lohn dafür, dass wir uns in den Dienst des anderen stellen. Dann würden wir gleichzeitig Sinn stiften. Win win.
In diesem Sinne des Sinnes, möge es euch wohlergehen und bleibt gesund, Leute!



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